von Altvater Johannes, Abt von Buchhagen
In der orthodoxen Kirche wird der Gottesdienst seit jeher in der Volkssprache gefeiert. Bei der Herabkunft des Heiligen Geistes, 50 Tage nach der Auferstehung, hörte und verstand jeder die Predigt der Apostel in seiner eigenen Sprache. Daher sind »die Völker« (τὰ ἔθνοι) nicht länger, wie im Alten Bunde, einfach »die Heiden«, die dem auserwählten »Volke Gottes« (ὄ λαὸς τοῦ θεοῦ) fremd und gesichtslos gegenüber stünden. Vielmehr ist jedes Volk eine von Gott gegebene gleichermaßen irdische wie geistige Wirklichkeit und wird als solches angesprochen. Daher lautet der biblische Auftrag des Heilandes: „ …machet zu Jüngern alle Völker“ ! Jede Sprache, in der Gott »in Geist und in Wahrheit« angebetet und verherrlicht wird, ist »Heilige Sprache«. Die orthodoxe Liturgie ist »öffentlicher heiliger Dienst« und zugleich, wie die Väter erläutern, geistige »Volksschöpfung«. Denn in ihr errichtet sich das »Volk Gottes« als geistiger Kern des jeweiligen Volkes.
Orthodoxe Liturgie ist das Kultmysterium par excellence, Kristallisationsraum gottmenschlichen Lebens. Sie ist Mystagogie, Hinführung zum ewigen Mysterium, Teilhabe am ewigen Gesang der Engel und sakramentale Einswerdung im lebendigen Gott. Die Gottes- und Seinserfahrung von Jahrtausenden, Theologie, Anthropologie, Ethos und Mystik, haben sich hier zu heiligem Vollzug verdichtet.
Die orthodoxe Liturgie in deutscher Sprache feiern bedeutet daher zugleich: Heiligung des Deutschen, Erhebung unserer Sprache zur sakralen Würde. Das setzt freilich voraus, daß der Kult nicht von Menschen für Menschen gemacht, sondern daß er tatsächlich in der Ewigkeit verankert, also wahr im Vollsinne des Begriffes, wirkmächtiger »Widerhall des ewigen Gesangs der Engel« ist. Darum muß die im Kult erklingende Sprache dem Heiligen angemessen sein, muß aus der Ewigkeit in die Zeit herüberklingen. Als Übersetzer heiliger Texte müssen wir vorab unsere deutsche Sprache von ihrem innersten geistigen Grunde her erkennen und zum Klingen bringen, von dort her, wo sie selber dem Ewigen Worte Gottes entquillt und auch ontisch schon Urwort, Heilige Sprache ist.
Das Mysterium gottmenschlichen Lebens überschreitet alle menschliche Begrifflichkeit und Vorstellung und entzieht sich jedem abstrahierenden Zugriff. Es will gelebt und gefeiert werden. Die altkirchliche Liturgie spricht nicht allein Verstand und Gemüt, sondern alle menschlichen Kräfte und Fähigkeiten an, zuvörderst die geistigen. Sie erhebt den ganzen Mensch mit Geist, Seele und Leib, richtet ihn aus und führt ihn zur Einheit in Gott. Dabei ist sie angewiesen auf das harmonische Zusammenspiel von Architektur, Ikonographie, Choreographie, Ethos, Gesang und Gebet. Jeder Widerstreit, jede Schere zwischen Form und Inhalt wirkt störend, mitunter zerstörend. Wenn die Voraussetzung wirkmächtigen liturgischen Vollzuges »Wahrheit« ist (Verankerung in der Ewigkeit, Übereinstimmung mit den göttlichen Urbildern), so sind Schönheit und Erhabenheit Kennzeichen seiner echten »Gestalt«.
So sehr also Liturgie aus Gründen quillt, die jenseits des rationaliter Faßbaren liegen, so sehr ist sie doch auf Verstehen angewiesen; freilich eines, welches tiefer gründet als abstrakter Hirnverstand. Liturgie erschließt sich im lauschenden und schauenden Mitvollzug. Das in Gebet und verinnerlichender Stille geöffnete Herz vernimmt inwendig die erlösende Weisung und wird belebt und erhoben durch den Einstrom der göttlichen Gnade und Kraft. Die geistige Vernunft – d. i. die Wahrnehmungs- und Erkenntniskraft des Herzens – greift nicht kürzer, sondern unendlich weiter als die rationale, fleischliche Vernunft. Dabei stehen diese beiden keineswegs im Widerstreit, sondern sind vielmehr unterschiedliche und einander notwendig ergänzende Weisen des Vernehmens und Erkennens …
Das gilt entsprechend für die liturgische Sprache. Wer da behauptet, das Verstehen sei dem Mysterium abträglich, und eine Fremdsprache tauge deshalb besser zur Liturgie als die eigene, sitzt einem fatalen Fehlurteil über das Wesen des Mysteriums und des Christentums auf, ähnlich jenem, der wähnt, es mit bloß irdischem Verstande beherrschen, Gebet und Kult durch »Denken« und »Moral« ersetzen zu können. Liturgische Sprache muß die verschiedenen Ebenen und Tiefenschichtungen des Mysteriums klingen lassen und im Menschen initiieren.
In Werbung und Politik wird Sprache seit jeher bewußt eingesetzt, um die jeweils erwünschten Wirkungen zu erzielen, bekanntlich keineswegs immer zum Wohle des Menschen … Die Absenkung des Sprachniveaus, bis hin zur Zerstörung und Veränderung der Sprache selbst, ist Kennzeichen eines menschenverachtenden Totalitarismus, der damit die Entgeistigung und Entmündigung der Menschen mit dem Ziel ihrer leichteren Entmündigung und Versklavung bezweckt. Jede echte Kultur hingegen wird um Hebung der Sprache und der Sprachfähigkeit bemüht sein, mit dem Ziel der geistigen Freiheit und Selbständigkeit des Menschen. Wieviel notwendiger ist es da erst recht im Bereich des Heiligen, wo es um die Wahrheit und Fülle des Seins schlechthin, um die ewigen Dinge und das Mysterium gottmenschlichen Lebens geht, unsere wundervolle, altehrwürdige und überreiche deutsche Sprache in ihrer ganzen Schönheit, Kraft und Tiefe und Erhabenheit zu verwenden!
Die Art und Weise, wie wir Liturgie erleben, streng genommen sogar ihre Wirkmächtigkeit, wird wesentlich durch die Sprache, genauerhin ihre Kultur oder Unkultur, beeinflußt. Ihre semantische Seite – Wortwahl, Klarheit, Stimmigkeit des Ausdrucks, inhaltliche Anklänge, mitschwingende Erinnerungen etc. – ist verantwortlich für die inhaltliche Tiefe (oder Untiefe) des Geschehens. Ihre poetisch-musikalische Seite – Wirkungen und Zusammenspiel der Klänge und Rhythmen – prägt die Stimmung, giebt dem Ganzen Farbe, Anmutung und Gestalt. Mithilfe sprachlicher Feinheiten und Färbungen können Sinnzusammenhänge je nachdem nur zart angedeutet oder schärfer umrissen, im Hintergrund verankert oder hervorgehoben und ins Licht gestellt werden. Umgekehrt kann mit gleichen Mitteln Wirklichkeit oder Sinn vernebelt, verfälscht, kann schlimmstenfalls gelogen und manipuliert werden. Und nicht zuletzt kann trotz besten Willens und ohne böse Absicht Sinn verfremdet und schlimmstenfalls verfehlt werden, wofern man sich über diese Dinge nicht im Klaren und fahrlässig im Umgang mit Sprache ist. Die moderne Forderung, liturgische Sprache müsse „einfach und allgemeinverständlich“ sein, hat zwar einen richtigen Kern, führt aber oft dazu, daß das Heilige herabgezogen und profaniert – also seines geistigen Wesenskernes beraubt wird. Man täusche sich nicht darüber hinweg, daß die Absenkung des Sprachniveaus immer den Zugang zum Kultmysterium behindert und versperrt, auch wenn es nicht bis zur Schmerzgrenze getrieben wird.
Als besonders problematisch erweisen sich solch abstrakte Forderungen wie jene, jeweils ein griechisches Wort mit immer demselben deutschen Wort zu übertragen, was angeblich größtmögliche „Nähe zum Urtext“ gewährleisten soll. Tatsächlich wird dadurch der Urtext kastriert, und die Tatsache ausgeblendet, daß im Deutschen ebenso wie im klassischen und frühmittelalterlichen Griechischen Wörter sich semantisch überschneiden, daß zumal in liturgischen, philosophischen und poetischen Texten bestimmte Kernbegriffe in verschiedenen und teils besonderen, nur in bestimmten Zusammenhängen in Frage kommenden Bedeutungen eingesetzt werden, und schon von daher eine sehr viel differenziertere Herangehensweise bei der Übertragung erheischen. Wörter gewinnen oft erst durch ihren Ort und Zusammenhang ihren semantischen Hof. Nicht zuletzt sollte man – bei aller poetischer Freiheit – Grammatik, Syntax und linguistischen Code des Deutschen achten und wahren. Sakrale Sprache darf weder unverständlich sein (das wäre billiger Mystizismus), noch darf sie sich dem alltäglichen Sprachgebrauche anbiedern und dem Niederen oder auch nur dem Gemeinen und Alltäglichen Vorschub leisten. Sie soll einprägsam und klar, aber nicht wohlfeil, vielmehr dem heiligen Geschehen angemessen sein. Sie soll ansprechen, sammeln, erwecken und erheben; sie muß durchdringen ohne aufdringlich zu wirken, Herz und Sinn zum Geist hin ausrichten. Als gelungen darf man sie bezeichnen, wenn sie – bei größter Treue zum Gegebenen – gut über die Lippen und zu Herzen geht, und dabei im Sinne des theourgischen und mystagogischen Geschehens wirkmächtig ist.
Zur Übersetzung heiliger Texte im Geiste der Heiligen Überlieferung bedarf es, neben den selbstverständlichen philologischen und theologischen Voraussetzungen, eines tiefen persönlichen Glaubenslebens, einer Grundhaltung der Demut, der Klarheit und der geistigen Unterscheidung, sodann aber auch eines ausgeprägten Sprachempfindens und … letztlich – tiefer Liebe zum Deutschen.
Die rechtehrende (orthodoxe) Kirche hat im Bereich des Kultus, der Geistigkeit, des Gottes- und Menschenbildes (Theologie und Anthropologie) vieles bewahrt, was anderswo im Laufe der Geschichte verloren, mitunter entwertet oder verfälscht erscheint. Weit entfernt davon, sich in „orientalisch blumiger Ausdrucksweise“ zu verlieren – welche oft gehörte Behauptung nur ein zweckdienliches Vorurteil ist – bildet die orthodoxe liturgische Poesie mit der Sprache der Theologie, Philosophie, Anthropologie und Spiritualität eine untrennbare Einheit. Dabei ist sie in den entscheidenden Dingen von bewundernswerter begrifflicher Klarheit, ohne indes der Versuchung der Abstraktion zu erliegen oder ihr auch nur nachzugeben. Daß sie nicht trotzdem, sondern gerade deswegen Poesie ist, wird jedem, der ein tieferes Sprachempfinden und genügend Erfahrung orthodoxer christlicher Geistigkeit besitzt, unmittelbar einleuchten. Denn ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß sie in Worte faßt, was wesentlich jenseits abstrakter Begrifflichkeit liegt, was aber gleichwohl – weil aus dem Ewigen Worte (Joh. I) geboren – Worte der Wahrheit und des ewigen Lebens (Joh. VI, 68) zu reinster Gestalt verdichtet. Sie transzendiert die asketisch geläuterten und kristallinen Begriffe der Heiligen Überlieferung zu lobpreisendem geistdurchwobenem Gesang.
Hierin nun besteht eine ihrer Schwierigkeiten bei der Übertragung. Denn gute deutsche Poesie zieht es vor, in wenigen wohlgefügten Worten viel zu sagen und noch mehr zu bedeuten, indem sie auf vorgewußte Beziehungen rekurriert. Die griechische liturgische Poesie, die in ihren vorchristlichen sakralen Ursprüngen der ältesten deutschen naturgemäß sehr nahestand, kennt und nutzt dieses „im Wink nur anklingen lassen“ des (dem Eingeweihten) Wohlbekannten – man denke etwa an die Kenninge der Edda. Aber lieber noch umkreist sie die Dinge, wendet sie hin und her, beleuchtet sie von den unterschiedlichsten Seiten und stellt so Beziehung her, wodurch dann in der Gesamtschau das Wesen umso klarer hervortritt. Nicht umsonst ist der griechische Fachbegriff für den liturgischen Hymnos τροπάριον, was soviel bedeutet wie „das Gedrehte, das hin- und her gewandte“. Es sind oft ganze Reihen solcher „Troparien“ (Kanons, Kondakien, Stichodien), in denen die jeweiligen Inhalte besungen werden, so, wie man einst die Schranken und Tore des heiligen Bezirkes zum Feste mit kunstvoll aus Zweigen, Blumen und Früchten geflochtenen Girlanden umwand. Gerade die ewigen Dinge, die sich gleichermaßen dem bloß rationalen Zugriff wie der bloß emotionalen Annäherung entziehen, treten in der poetischen, d. h. schöpferischen, gott- und schöpfungsgemäßen Weise umso lichter hervor. Analog finden sich in den Gebeten mitunter ganze Wortketten, etwa in der Anrufung einer der göttlichen Gestalten der Heiligen Dreiheit, oder Reihungen von Epitheta, in welchen die verschiedenen Aspekte des jeweiligen Gegenstandes reflektiert werden. Eine nicht geringe Herausforderung bei der sprachlichen Ausgestaltung dieser Texte im Deutschen liegt nun, um nur dies eine Beispiel zu nennen, darin, solche Reihungen nicht zu ermüdenden synonymen Wörterhaufen zusammenschnurren zu lassen, sondern so zu fassen, daß sie tatsächlich als dynamische Folge einander ergänzender Glanzlichter, vergleichbar denen eines kunstvoll facettierten Edelsteines, hervortreten und ihre mystagogische Wirkung entfalten. Dabei spielen gerade die verneinenden Begriffe (wie: unvorstellbar, unsagbar, unsterblich, unblutig u.v.a.) eine große Rolle, wie sie die apophatische Theologie und Haltung des orthodoxen Christentums hervorgebarcht hat. Die Vorsilbe „un-“ hat hier nichts Pejoratives (wie in: unschön, unklar), sondern drückt vielmehr den grundsätzlich notwendigen „erkenntnistheoretischen Vorbehalt“ aus. In einzelnen Fällen kann man im Deutschen das verneinende griechische „a-“ in ein die Transzendierung betonendes „über-“ verwandeln (wie „überkörperlich“ für „ἀσώματος“.)
Dies tritt besonders im Anfang des Hochgebetes, hier bei Goldmund, hervor:
Wahrhaft würdig ist es und recht, Dir zu singen, Dich zu loben, Dich zu segnen, Dir zu danken und Dich anzubeten an jedem Orte Deiner Macht. Du bist der unvorstellbare und unaussprechliche, unsichtbare und unfaßbare Gott, ewiges Sein, einzig aus sich selber seiend, Vater, eingeborener Sohn und Heiliger Geist …
Zur Veranschaulichung der Bedeutung sprachlicher Ausgestaltung diene der nachstehende Textvergleich des Priestergebetes zur dritten Fürbitte der Goldmundliturgie.
Buchhäger Übersetzung:
Uns zur Gemeinschaft hast Du das innige Beten geschenkt, wie Du verheißen hast: “Wo zwei oder drei in Deinem Namen eins worden sind, da werden ihre Bitten erfüllt” – so erfülle nun das Gebet Deiner Söhne zum Heil; auf Erden gieb uns Erkenntnis der Wahrheit, in den Himmeln aber das ewige Leben.
Denn ein guter und menschenliebender Gott bist Du, und Dir bringen wir unseren Lobgesang dar, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit, und in Ewigkeit. Amen.
Kommissionsübersetzung:
Der du uns diese gemeinsamen und einmütigen Gebete geschenkt hast, und der du verheißen hast, zweien oder dreien, die in deinem Namen einmütig sind, ihre Bitten zu gewähren, du selber erfülle auch jetzt die Bitten deiner Knechte und Mägde zu ihrem Nutzen, indem du uns in dem gegenwärtigen Zeitalter die Erkenntnis deiner Wahrheit verleihst und in dem künftigen das ewige Leben schenkst.
Denn ein guter und menschenliebender Gott bist du, und dir senden wir die Verherrlichung empor, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Übersetzung von Neophytos Edelby:
Du hast uns diese gemeinsamen und einmütigen Gebete geschenkt. Du hast auch versprochen, wo zwei oder drei in Deinem Namen sich versammeln, daß Du sie erhörest. So erfülle denn jetzt die Bitten Deiner Diener zu ihrem Heil: Gib uns in dieser Welt die Erkenntnis Deiner Wahrheit, in der zukünftigen aber ewiges Leben.
Denn ein gütiger und menschenliebender Gott bist Du, und Dir senden wir Lobpreis empor, Vater, Sohn und Heiliger Geist, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Nicht nur sprachliche, sondern auch inhaltliche (!) Verschiebungen seien schließlich am Beispiel des ersten Gebetes der Gläubigen aus der Liturgie der vorgeweihten Gaben veranschaulicht.
Buchhäger Übersetzung:
Großer und erhabener Gott, durch den lebenzeugenden Tod Deines Gesalbten hast Du uns aus der Vergänglichkeit ins ewige Leben gestellt. Befreie all unsere Sinne von leidenzeugender Todesstarre, und gieb uns den von innen her aufsteigenden Gedanken als guten Führer ein …
Übersetzung von Neophytos Edelby:
Großer und lobwürdiger Gott, durch den Tod Deines Christus hast Du uns von der Verweslichkeit zur Unverweslichkeit kommen lassen. Befreie alle unsere Sinne von tödlichen Leidenschaften und gib ihnen als guten Führer die innere Vernunft …
Erläuterung dazu:
Man beachte die Gegenüberstellung des lebenzeugenden Todes des Gesalbten und der leidenzeugenden Todesstarre des geistig verirrten Menschen. Die meisten Übersetzungen geben aufgrund einer überlieferungsfernen Spiritualität dieser Gegenüberstellung eine völlig andere Sinnrichtung. Dabei wird der Sachverhalt ins Gegenteil verkehrt. Es heißt im griechischen Text nämlich nicht „von todbringenden Leidenschaften“, sondern τῆς ἐμπαθοῦς νεκρώσεως, was interlinear als “leidenschaftliches Abgestorbensein” zu übersetzen wäre.
Νέκρωσις als Wort taucht in hellenistischer Zeit auf und bedeutet Absterben oder Erstorbensein, wie in Röm IV, 19 vom Erstorbensein des Leibes Abrahams und Saras die Rede ist. Daneben verwendet Paulus das Wort im Sinne von Abtötung. Oft wird es auch im übertragenen Sinne gebraucht und meint das Erstorbensein des Herzens, also geistige Taubheit und mangelnde Lebendigkeit, was sich inhaltlich überschneidet mit πώρωσις – Verstocktheit, Herzenshärte. Es geht also in dem Gebet gar nicht um sinnliche Leidenschaften, sondern vielmehr um “leidenschaftliche” i. S. v. zwanghafte und daher leidenzeugende Abtötung und Abstumpfung der Wahrnehmungskräfte ! Diese unchristliche „Abtötung“ ist aber Verdrängung (!) und führt ihrerseits zu geistiger Starre und Todesverfallenheit.
Im Gebet folgt die Aufzählung jener Dinge, die wir meiden und jener, die wir erstreben sollten, um solcher Todesverfallenheit zu entraten, welche trotz der ein für allemal geschehenen Erlösung stets noch als Gedankenkraft und Sog der Sünde in uns wirkt.
Was aber ist mit ἔνδοθεν λογισμὸς gemeint? „Innere Vernunft“? Sofern man darunter die geistige Vernunft als Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen des Inneren Menschen versteht, liegt man sicherlich nicht falsch. Doch ist λογισμὸς nicht Vernunft (das wäre διανοία), sondern nur der Gedanke; vor allem aber handelt es sich um einen Kernbegriff der orthodoxen Asketik. ἔνδοθεν ist nicht nur innen, sondern von-innen-her. Es ist also nicht allgemein von der geistigen Erkenntniskraft die Rede, schon gar nicht von „Vernunft“ im heute gängigen rationalistischen Sinne, sondern konkret von jenen „Gedanken“, die aus dem gotterkennenden Herzen aufsteigen, welches in der Überlieferung auch als „das Innere“ bezeichnet wird, und worüber bei den heiligen Vätern Wesentliches gesagt ist. Insbesondere ist an des hl. Gregor Palamas’ Erläuterungen zum Zustand der Herzensreinheit zu denken, in welchem die Gedanken Gottes sich dem geöffneten Geiste des Menschen einsiegeln. Von dieser Art des Gedankens ist hier die Rede. Und eben dieser möge zum ἀγαθόν ἡγεμόνα, zum guten Führer unserer Sinnestätigkeit werden.
Insgesamt bedient das Gebet also gerade nicht jene weitverbreiteten pseudochristlichen Vorstellungen von der „Abtötung der Sinne“, sondern zielt im Gegenteil auf deren Gesundung, Reinigung und Veredelung. Erst kraft solcher Wiederherstellung und rechten Lenkung werden sie nämlich überhaupt in die Lage versetzt, die zum geistigen Tode führende Macht der Sünde und der Anhaftung an Uneigentliches zu entlarven und sich ihr in männlichem Kampfe zu widersetzen.