Nachdem die orthodoxen Kirchen Osteuropas nach Jahrzehnten grausamer Unterdrückung und Verfolgung in ungeahnter Weise wieder aufgeblüht sind, haben sie auch in Deutschland ihre Auslandsdiözesen und Gemeinden (wieder-) gegründet. Dort wird der Gottesdienst in den entsprechenden Sprachen gesungen und die jeweilige nationale Identität gepflogen.
Ein deutsch-orthodoxes Kirchentum in Form einer Diözese oder Patriarchates hingegen besteht bislang nicht. Dennoch gibt es die Deutsche Orthodoxie als lebendige Wirklichkeit. Denn immer mehr Deutsche entdecken das orthodoxe Christentum als geistige Heimat, sei es durch Heirat eines orthodoxen Ehegatten, sei es als Ergebnis geistiger Suche. In vielen rechtehrenden Kirchgemeinden werden inzwischen Teile des Gottesdienstes auch auf deutsch gehalten. Ein Beispiel für die stimmige Verbindung des orthodoxen Christentums mit deutscher Sprache und deutschem Geist ist, neben anderen, das Heilige Dreifaltigkeitskloster im Weserbergland. So tritt die Entfaltung einer deutsch-orthodoxen Tradition allmählich ins allgemeine Bewußtsein.
So ist “Deutsche Orthodoxie” nichts anderes als die eine, uralte, unteilbare Kirche in deutscher Sprache und Gestalt, wie sie der deutschen Seele entspricht – so wie die Orthodoxie seit jeher überall Sprache und Wesensart der verschiedenen Völker angenommen hat, unter treuer Wahrung der Unversehrtheit und Ganzheit der Heiligen Überlieferung (Katholizität). In diesem allgemeinen Sinne der Inkulturation sprechen wir hier von “russischer Orthodoxie, griechischer, georgischer, bulgarischer, rumänischer usw. und eben auch von deutscher Orthodoxie”. Dabei spielt die Sprache eine entscheidende Rolle.
Deutsche Orthodoxie lebt in allen ernsthaften rechtehrenden Christen, denen deutsche Sprache und Kultur wichtig sind – sei es, weil sie von Herkunft Deutsche sind und es auch als orthodoxe Gläubige zu bleiben gedenken, oder sei es, weil ihre Vorfahren aus orthodoxen Völkern stammen, sie selber aber Deutsch als Muttersprache sprechen, sich in der deutschen Kultur wohl und heimisch fühlen und zugleich dem orthodoxen Glauben treu bleiben (oder ihn für sich wiederentdecken) möchten.
Geschichtlich finden sich viele Hinweise darauf, daß das orthodoxe Christentum ursprünglich bei fast allen germanischen Stämmen verbreitet gewesen ist. Schon im zweiten Jahrhundert spricht der Heilige Irenäos v. Lyon von den „in Germanien gegründeten Kirchen“, deren Treue zur orthodoxen Überlieferung er hervorhebt (Gegen die Häresien I, 10,2).
Die erste deutsche Bibelübersetzung entstand in den Jahren um 340 n. Chr. in den Ostkarpaten und bei Tirnowo im heutigen Bulgarien, nämlich die Wulfilabibel in gotischer Mundart, deren letztes erhaltenes Exemplar im schwedischen Upsala aufbewahrt wird. Das Gotische ist damals überall in Mittel- und Nordeuropa problemlos verstanden worden.
Auch die Goten nannten ihre Sprache thiudisk (deutsch). Thiudisker orthodoxer Gottesdienst ist für Nordbulgarien / Dobrudscha bis ins 9. Jh., für die südliche Krim bis ins 16. Jahrhundert in Resten greifbar bzw. in Geschichtsquellen erwähnt, für Thüringen und Bayern bis ins 8. Jh. erschließbar. In Bulgarien und Rußland sind in jüngster Zeit bedeutende historische Untersuchungen zum frühen germanisch-orthodoxen Christentum in jenen Ländern veröffentlicht worden, die ein Licht auf die ursprüngliche christliche geistige und kulturelle Einheit des ganzen Europa von Irland bis zum Kaukasus, über die Zeit der Völkerwanderung hinaus bis ins frühe Mittelalters werfen (Lazarova, Milev, Ivanov, Woronzov, Kizilov u. v. a.). Durch weitere Forschungen in diesem Bereich wird sich das westliche Geschichtsbild, welches stets einen seltsamen Verdrängungsbogen um den christlichen Osten schlug, im allerbesten Sinne weiten und verändern.
So erweist sich die Deutsche Orthodoxie als ein allzu lange vergessener Ast am Baum der ursprünglichen rechtehrenden Kirche, der zwar vor rund 1000 Jahren durch die lateinische Überfremdung mehr oder weniger abgeschnitten ward, nun aber wieder neu ins Leben drängt. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, Institutionen und Vereinigungen zu gründen, schon gar nicht darum, Einfluß und Macht über andere zu gewinnen – das alles ist «Welt» und dem Geiste fern. Vielmehr geht es darum, die Orthodoxie als Ehre, Glanz und Schönheit (doxa) von Gott her aufrecht und gerade (orthos) «thiudisk», auf deutsch zu leben, in aller Demut und Einfachheit, aber tiefgegründet und treu, in geistiger Unterscheidung, mit Klarheit und edler Würde, wie sie der Heiligkeit Gottes und Seiner Kirche ziemt, und wie sie dem von Gott her und in Gott lebenden Menschen seit je her eigen ist. Die wahre Religion ist nun einmal keine Sache von Menschen, nichts, was man „machen“ könnte; und sie ist keine Sache der Psychologie oder der Mode. Sie blüht aber in denen, die Gott treu sind in allem, auch wo es schwierig wird, und die wir daher zu recht als «Heilige» verehren. Sie gründet in der Ewigkeit. Sie kommt von Gott, sie führt zu Gott und sie ruht in Gott, dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste, der wesenseinen und unteilbaren Dreifaltigkeit. Ihm gebührt alle Ehre, Lob und Gesang, in Zeit und in Ewigkeit. Amen.